Mittwoch, 18. Mai 2016

Warum auch Menschen mit Fahne und ohne Obdach meinem Sohn den Kopf tätscheln dürfen

In letzter Zeit fallen mir im sozialen Netzwerk wieder vermehrt Posts auf mit Inhalten ähnlich diesem:

"Oh, wie ich das hasse, wenn fremde Menschen mein Kind einfach angrabbeln! Da könnte ich jedes Mal ausrasten!"

Statt nun auf jeden dieser Posts zu reagieren schreibe ich einen Blogbeitrag und verlinke diesen dann fleißig. Ha! Deutlichen Blogger-Vorteil erkannt! Supi-dupi!

"Na, Du bist aber eine Süße!"

So wird mein Zweitgeborener oftmals angeredet wenn er verschlafen aus der Trage blinzelt. Sein potentieller Gesprächspartner ist eine Co-Fahrgästin der S-Bahn, ca. 70 Jahre alt, und guckt den Hutz mit großen, leuchtenden Augen an. Vorsichtig streckt sie ihren Zeigefinger aus und streicht damit sanft über des Hutzels weichen Handrücken.

Nun könnten zweierlei Reaktionen von Hutz erfolgen. Er könnte sich steif machen und seinen Kopf in die andere Richtung drehen. Dann ist es an mir, mich so wegzudrehen, dass eine weitere körperliche Kontaktaufnahme durch die Dame nicht möglich ist. Das mache ich, weil ich an seiner Reaktion gemerkt habe, dass ihm diese Situation unangenehm ist.

Meistens passiert aber etwas anderes. Der Gesichtsausdruck des Hutzelkindes verändert sich von schläfrig-dösig in freudig-strahlend. Und der Hutz hat ein Lächeln, dass es sein Gegenüber vor Wonne niederstrecken könnte (Silvie! Sag' was!). Die nette 70erin strahlt zurück und mindestens drei Fahrgäste, die dieses Kennenlernen beobachten, strahlen mit. Wenn Hutz so richtig gut drauf ist, dann gluckst er und streckt seine kleine Zunge keck raus. Spätestens hier hyperventilieren die ersten weiblichen Insassen der S-Bahn.

Ich bin sicherlich nicht Cal Lightman aus "lie to me". Aber so ganz banale Mimik kann ich auch deuten. Deswegen erlaube ich mir, zu urteilen, dass mein Sohnemann hier Freude empfindet.

Die 70-jährige ist aber nicht der eingangs erwähnte Alkoholduftträger!

Nein, das ist sie nicht. Aber den gibt's auch. Und auch er nimmt Kontakt zu meinen Kindern auf, wie jüngst vor einer Mall (hi hi) in Braunschweig ( <3 ). Mein Großer lief vor uns her und wurde von besagtem Herrn gestoppt, indem dieser seine Hand auf Mausos Kopf legte und lallte : "Na, nicht so schnell. Da ist eine große Straße!"

Nichts an dieser Aussage war zu bemängeln. Wäre er Frackträger mit Nickelbrille und Rollkragen gewesen, wäre womöglich ein Impuls gewesen, sich dankend zu verbeugen. Tatsächlich jedoch ist dieser Herr vermutlich kein Studienrat. Wahrscheinlicher ist, dass er nicht weiß, wo er die nächste Nacht verbringen soll.

So. Und wer bin ich nun, dass ich entscheide, von wem mein Sohn angefasst werden möchte und von wem nicht? Sehr häufig kommt es vor, dass Menschen ihm den Kopf kurz tätscheln. Seine Oma, ich, jemand im Supermarkt der gerne an ihm vorbei möchte (Mauso steht gern träumend im Weg), Mitglieder der Herrenhandballmannschaft, die nach dem Kinderturnen in der Halle ihrem Feierabendsport frönen.

Was lernt mein Sohn, wenn ICH selektiere? Toleranz? Akzeptanz? Wertschätzenden Umgang ohne Vorurteile? Wahrscheinlich nicht.

Der findige Leser weiß: ich habe nicht den Anspruch, dass meine Kinder durch gezieltes Verhalten meinerseits irgendetwas lernen. Also ist mein tieferer Gedanke dabei noch ein anderer:

Bekommen meine Kinder möglicherweise durch solches Verhalten von mir Angst vor Menschen, die nicht meinen persönlichen Vorlieben entsprechen?

Was ist mit dem "Dorf, das es braucht, um ein Kind großzuziehen"? Ist das ein idealisiertes Dorf? Wer wohnt da? Ausschließlich Pädagogen? Oder gehören zu einer Dorfgemeinschaft vielleicht auch die Abtrünnigen, Aussätzigen? Die Waldschrate, Kräuterhexen und Alm-Öhis?

Zugegeben: ich möchte vielleicht (vielleicht! Ein abschließendes Urteil kann ich einfach nicht fällen!) nicht, dass besagter Herr vor der Braunschweiger Mall (hi hi) maßgeblich daran beteiligt ist, Mauso und Hutz ins Leben zu  begleiten. Aber durch seinen freundlichen Hinweis und die unaufdringliche Berührung trug er doch ein wenig dazu bei. Zumal er Mauso direkt angesprochen und nicht in meine Richtung gekeift hat: "Ey, passen se ma besser auf det Gör auf!"


Lernt das Kind dann nicht, dass jeder es jederzeit anfassen darf? Ist es dann nicht potentielles Opfer für Missbrauch?

Ich wage zu behaupten: nein.

Woran ich das festmache? Nun - sowohl Mausbär als auch Hutzelkind sagen/zeigen sehr deutlich "Nein!" wenn sie nicht angefasst werden möchten.

Und in diesem Nein werden sie von mir unterstützt. Mauso muss sich nicht zur U7a ausziehen wenn er das nicht möchte. Bei der Physiotherapie gibt es Therapeuten, bei denen er nicht einmal die Socken ausziehen möchte. Und dann muss er das auch nicht! Er muss sich weder küssen noch tragen noch streicheln lassen wenn er etwas dagegen hat. Von niemandem. Wenn er diese Grenze nicht selber verteidigen kann oder mich um Hilfe bittet, werde ich an dieser Stelle auch ganz klar demjenigen gegenüber, der unbedingt an ihm herumfummeln möchte.

Ihre Körper gehören ihnen und sie müssen sie nicht unhinterfragt jederzeit zur Verfügung stellen.

Keime und so?!

Oftmals lese ich folgendes "Argument".

"Wer weiß, wo diese Leute ihre Hände vorher hatten?!"

Hö hö... Also das will ich gar nicht wissen. Vor allem möchte ich das nicht wissen, wenn Mauso sich mal wieder mit seinen Spielkameraden trifft und dort fleißig gemeinsam in die Schüssel mit den Melonenstücken gegriffen wird. Wenn Cousine E. (5 Jahre) angereist kommt, mit Bus und Bahn, und überschwänglich erst den Hund begrüßt (leck, leck), sich dann die Straßenschuhe von den Schweißfüßen (überspitzt gesagt) zieht und dann dem Hutzelkind über den Kopf streicht.

Bitte versteh mich nicht falsch, liebe Leserin/lieber Leser! Ich bin keine keimsuchende, kindgezieltgegenbakterienundvirenabhärtende Mutter. Ich wische meinem 3,5-jährigen die Hände ab, wenn er im Mülleimer am Bahnsteig des Hauptbahnhofes gewühlt hat, bevor er sich ein weiteres Stück von unserer Gemeinschaftspizza abreißt.

Der Blick über den Tellerrand

Hin und wieder lese ich auch: "Wir waren mit unseren Kindern (2,5 Jahre und 8 Monate) in xy (Italien, Spanien, Polen, Kosovo, ..., ..., ...) und dort wurden die Kinder ständig von wildfremden Leuten angesprochen und sogar angefasst und beschenkt!"

Ja, liebe Leute, da gilt es jetzt zu überlegen. Sind die alle schrullig, oder wir Eltern mit der (deutschen?) MEINS!-Mentalität?

... den Ausruf des Entsetzens oben spinne ich in Gedanken gerne weiter:
"... Sie durften überall spielen! Sie bekamen kostenlose Getränke und es wurde milde gelächelt, als sie nach 20:00 Uhr noch laut auf der Straße herumsprangen. Die Wirtin in der Pension kochte jeden Tag Leckereien für sie und war fast enttäuscht, wenn wir Tagesausflüge machten! Sie fühlten sich willkommen und angenommen, gesehen und wahrgenommen! SCHRECKLICH!"

Kein Fazit - aber eine Frage!

Wie kinderfreundlich kann ein Land sein, wenn dessen Einwohnern nicht gestattet wird, zu Kindern freundlich zu sein?

Und ein P.S. hinterher

Natürlich kenne ich den MEINS-Impuls. Ich finde ihn womöglich sogar richtig und wichtig, zeigt er doch eine erhöhte Achtsamkeit. Ich kann Eltern verstehen, die ihre Kinder vor den Händen und dem Atem völlig fremder Menschen abschirmen möchten. Und vielleicht ist dieser Blogpost ein ganz klein bisschen provokativ formuliert, um im Gedächtnis zu bleiben und sich ins Bewusstsein zu schieben, wenn wieder eine ganz dubiose Seniorin den wertvollsten Nachwuchs der ganzen Welt anspricht. Denn möglicherweise ist die dubiose Seniorin eine ganz liebe Dame, deren Enkelkinder am anderen Ende von Deutschland wohnen und der wertvollste Nachwuchs kann ihr für einen kurzen Moment das Herz erwärmen.















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